Die Kraft des Nichtwissens
„Alles zu wissen, heißt alles zu ertragen…“ (1)
Alles zu wissen kann uns als Einzelperson, aber auch als Gesellschaft insgesamt, überfordern. Doch was verstehen wir eigentlich unter Nichtwissen? Viele von uns werden diese Frage wohl mit dem nicht vorhandenen Wissen beantworten – ein Mangel, welcher sich durch Lernen beheben lässt. Ist es wirklich so einfach? Natürlich nicht! Im Gegenteil, gerade Nichtwissen kann in unserer heutigen Gesellschaft, letztendlich auch in Unternehmen, erhebliche Vorteile bringen. Es ist quasi eine „geheime Schlüsselposition“ in Organisationen, welcher noch viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Unter diesem Aspekt kann Nichtwissen unter anderem Entscheidungen überhaupt erst anregen. Gezieltes Zurückhalten von Wissen (um beispielsweise Verhalten und soziale Veränderungen zu beeinflussen) kann stabilisierend wirken, manchmal sogar die Identität von Unternehmen bewahren. Wir können davon ausgehen, dass aufgrund technischer (Weiter)Entwicklungen, gesellschaftlicher Veränderungen und einem ständig wachsenden Wissen auch unser Nichtwissen laufend zunimmt. Nichtwissen stellt für uns auch eine Entscheidungsgrundlage dar, welches Wissen wir auf individueller („Was will ich wissen?“) oder sozialer („Was sollen andere über mich wissen?“) Ebene entwickeln wollen.
Viele wissenschaftliche Arbeiten ranken sich um das Thema Nichtwissen. Wirklich interessant wird es, wenn man sich ansieht, wie die Wissenschaft dieses unterteilt. Deshalb versuche ich an dieser Stelle eine möglichst sinnstiftende Zusammenfassung, welche in meinem Beitragsbild auch visuell dargestellt wird:
Am naheliegendsten wäre zunächst die Trennung in bewusstes („zu wissen, dass man nichts weiß“) und unbewusstes („nicht wissen, dass man nichts weiß“) Nichtwissen. Gerade das Vorhandensein eines bewussten Nichtwissens regt in uns jene menschliche Triebkraft an, welche auch den Anreiz für Forschung und Entwicklung entstehen lässt.
Basierend auf dieser Basis, unterscheiden wir nun in intendiertes (beabsichtigtes „nicht wissen wollen“) und nicht intendiertes (unbeabsichtigtes „nicht wissen können“) Nichtwissen. Und wenn schon von „wir“ gesprochen wird, dann betrifft unser Nichtwissen eine einzelne Person, eine Gruppe oder eine gesamte Organisation.
Darüber hinaus kann eine Gliederung in fachliches (in einem speziellen Fachgebiet), strategisches (Entscheidungen betreffend) und operatives (Wissen, welches für Arbeitsabläufe noch nicht bekannt ist) Nichtwissen erfolgen.
In einem weiteren Schritt lässt sich eine Unterscheidung in funktionales (zweckmäßiges) und dysfunktionales (unzweckmäßiges) Nichtwissen erkennen. Die funktionale Basis wiederum wird in positives (man ist sich eines nicht erforderlichen Wissens bewusst) sowie in schützendes (bestehendes Wissen kann Produktivität und Kreativität beeinträchtigen) Nichtwissen gegliedert. Bei einer dysfunktionalen Basis wird zwischen inspirierendem (anregende Wirkung durch bewusste Beseitigung von Wissen), manipuliertem (bewusstes Vorenthalten von Wissen bei einzelnen Personen) und ignoriertem (unerkanntes Nichtwissen, das durch Erkennen „blinder Flecken“ beseitigt werden kann oder weiterhin verborgen bleibt) Nichtwissen unterschieden.
Man kann erkennen, dass beim Arbeiten mit Wissen schwerlich am Nichtwissen vorbeizukommen ist. Es sind weniger rein fachliche Themen, welche Prozesse oder Abläufe behindern, sondern oftmals dieses fehlende Bewusstsein, nicht alles wissen zu können (oder wollen). Die systemische Beratung legt deshalb ein besonderes Augenmerk auf diesen Aspekt.
(1) zitiert nach U. Schneider, 2006