„Die Stellenübergabe – ein unterschätzter Prozess?“
In vielen Unternehmen wird ein Übergabeprozess während einer Stellenübergabe noch immer als „Stiefkind“ angesehen. Selten genug sind eindeutige Richtlinien wie, wann und in welchem Ausmaß dieser zu erfolgen hat, vorgegeben. Auch Ergebnisse, welche sich daraus erkennen lassen, werden, wenn überhaupt, nur vereinzelt als Ziele festgelegt.
Eine von mir durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung („Subjektive Wahrnehmungen bei der Stellenübergabe“, 2018) hat interessante Resultate über den Übergabeprozess hervorgebracht. Besonders auffallend dabei war, dass die Untersuchung fast durchgehend ähnliche bis identische Ergebnisse erzeugte, obwohl die beteiligten Unternehmen in Branche und Führungsstil vollkommen unterschiedlich auftraten.
Motivation
Eine erfolgreiche Stellenübergabe hängt in erster Linie von der persönlichen Einstellung der beteiligten Personen ab: Dem Willen der Vorgänger/innen Wissen und persönliche Erfahrungen zu vermitteln sowie der Bereitschaft der Nachfolger/innen diese auch anzunehmen. Nebst der zugrundeliegenden Motivation der Beteiligten eine Übergabe überhaupt durchzuführen. Selbst Vorgänger/innen, durch die Vorfreude neuer Herausforderungen stark motiviert, haben hier ein schweres Los, wenn Nachfolger/innen deren Ausführungen nicht folgen können oder wollen. Motivierte Nachfolger/innen wiederum, werden wohl schwer Wissen und Erfahrung sammeln können, wenn deren Weitergabe den Vorgänger/innen widerstrebt oder durch diese sogar verhindert wird.
Wissen
Wissensverlust während einer Übergabe weitgehend einzudämmen und im besten Fall ganz zu verhindern stellt eine der größten Herausforderungen dar. Eine breitgefächerte Wissensweitergabe kann ohne großen Mehraufwand erreicht werden, sofern die Übergabeprozess durch mehrere Personen erfolgt, nicht nur durch Vorgänger/innen. Wissenslücken – hervorgerufen durch absichtliches Zurückhalten von Informationen, subjektive Bewertung von Wissen oder einfachem Vergessen von Vorgänger/innen können so auf ein tolerierbares Minimum reduziert, manchmal sogar ganz vermieden werden. Aus der daraus entstehenden Vielfalt an Sichtweisen mehrerer Einschulenden, lässt sich noch ein weiterer positiver Aspekt erkennen: Verschiedene Standpunkte können sich als wesentlich für die eigene Entwicklung und der Position von Nachfolger/innen herausstellen. Deren Herausforderung besteht jedoch darin, die erhaltenen Informationen anzuerkennen und in einen kontextualen Zusammenhang zu bringen.
Wissen anzunehmen und dieses im richtigen Kontext anzuwenden, liegt allerdings in der alleinigen Hand der Nachfolger/innen. Vorgänger/innen erkennen erfolgreichen Wissenstransfer meist im Verhalten oder im Handeln derer Nachfolger/innen. Einige davon assoziieren angenommenes Wissen auch mit dem „richtigen“ Nachfragen. Dies ermöglicht einen kontextbezogenen Bezug zum erhaltenen Wissen. Es kann jedoch niemals ausgeschlossen werden, dass sich diese Verhaltens- und Handlungsweisen der Nachfolger/innen nicht irgendwann wieder verändern.
Feedback
Um sprichwörtliche „böse Überraschungen“ während oder nach der Übergabe zu verhindern helfen laufende Feedbackgespräche und Selbstreflexionen. Das Ansprechen von Gefühlen, unterschiedlicher Denkweisen oder empfundener nutzloser Informationen wird jedoch oftmals auch als Schwäche verstanden und deshalb vermieden. Empathischer Umgang unter den Beteiligten, rechtzeitiges Erkennen unterschiedlicher Anschauungen und dessen Verständnis dafür, schaffen jedoch bestmögliche Voraussetzungen für eine „saubere“ Übergabe. Solche Feedbackgespräche und Selbstreflexionen durchzuführen, erfordert jedoch auch einiges an Erfahrung. Unterstützung hierfür sollte den Betroffenen vom Unternehmen aktiv angeboten werden. So können beispielsweise standardisierte Gesprächsmodule dazu beitragen, einfacheren Zugang zu einer besseren Kommunikation und einer gegenseitigen Zusammenarbeit zu erhalten.
Dokumentation
Das Fehlen stellenspezifischer Dokumentation kann sich als wunder Punkt während der Übergabe herausstellen. Als wichtig erkannt aber mühsam in der Erstellung wird diese, sofern nicht vorhanden, oft während oder zumindest nach einem Übergabeprozess regelrecht herbeigesehnt. Dies ermuntert zu der Annahme, dass Hemmschwellen existieren müssen, bis zu welchen schriftliche Dokumentationen als entbehrlich angesehen und deshalb erst gar nicht durchgeführt werden. Aufzeichnungen solcher Art ermöglichen jedoch ein wesentlich besseres Verständnis für markante Aufgaben. Fehler, aber auch Optimierungspotentiale können bereits während solch einer Niederschrift unerwartet erkannt werden. Zudem statten sie Stellen mit strukturierten Abläufen aus, welche bei etwaigen Personalausfällen rascheres Handeln ermöglichen. Letztendlich legen gut aufgelegte Dokumentationen den Grundstein dafür, professionelle Übergaben ohne größeren Aufwand durchzuführen.
Verbundenheit
Verhalten sich ehemalige Stelleninhaber/innen zu deren Nachfolger/innen voreingenommen, so kann dies den Verlauf einer Übergabe hemmen. Insbesondere Nachfolger/innen treten eine neue Stelle wesentlich entspannter an, wenn sie sich im neuen Umfeld wohlfühlen und sich angekommen sehen. So kann eine gelebte Willkommenskultur, als Basis für eine gelungene Integration neuer Mitarbeiter/innen, Nachfolger/innen den Willen und die Bereitschaft des Unternehmens für eine gewollte Zusammenarbeit zeigen.
Involvierte Kollegen und Kolleginnen sollten angemessen und vor allem zeitnah über bevorstehende Personalwechsel und möglichen Auswirkungen informiert werden. Durch rechtzeitiges Auseinandersetzen mit sich verändernden Situationen können potentielle Konfliktthemen rechtzeitig erkannt und im Idealfall auch verhindert werden. Die „Töpfe der Gerüchteküche“ kommen dadurch viel seltener zum Brodeln.
Oft erleichtert eine persönliche Bekanntschaft zwischen Vorgänger/in und Nachfolger/in einen Übergabeprozess. Es ermöglicht einen wesentlich offeneren Umgang zwischen den Beteiligten. Bei internen Nachbesetzungen stellt sich zugleich ein weiterer förderlicher Effekt ein: Fachliche Wissensweitergabe ist des Öfteren gar nicht mehr oder nur im geringen Ausmaß notwendig. Solche Umstände findet man vor allem bei Nachbesetzungen innerhalb eines bestehenden Teams. Dabei kann jedoch noch eine gänzlich andere Problematik zum Vorschein kommen: Handelt es sich um eine Führungsposition, so besteht großes Potential an Konfliktsituationen. Insbesondere dann, wenn sich Kolleginnen und Kollegen bei einer Beförderung benachteiligt oder gar hintergangen fühlen. In solchen Situationen sind Vorgänger/in und Nachfolger/in gleichermaßen gefordert. Oftmals entspannt sich solch eine Sachverhalt erst nach einem, oft auch freiwilligen, Abgang einer der betroffenen Personen. Gerade bei Themen um neue Führungskräfte erweist sich eine parallele Begleitung durch unabhängige Dritte als äußerst sinnvoll.
Mehrfachbelastung
Ehemalige Stelleninhaber/innen, welche innerhalb des Unternehmens neue Positionen übernehmen sind oft noch mit einer vielfach unterschätzten Mehrfachbelastung konfrontiert: Der Stellenübergabe und der daraus resultierenden Wissensweitergabe an Nachfolger/innen, sowie der Übernahme der eigenen, neuen Aufgaben und der damit verbundenen persönlichen Wissensaneignung. Daneben stehen diese meist Nachfolger/innen noch eine geraume Zeit bei Fragen und Problemen zur Verfügung. Gerade beim Thema Mehrfachbelastung steht vor allem der Faktor Zeit, als äußerst knappe Ressource, im Vordergrund. Zeit, welche man sich nicht leisten kann oder will. So werden beispielsweise Unterbrechungen durch Dritte von fixen Übergabeterminen noch immer als Kavaliersdelikte angesehen. Heikle Themen kommen gelegentlich überhaupt erst im Laufe eines Übergabeprozesses zur Sprache. Auch wird die Weitergabe von Informationen manchmal schlicht und einfach vergessen. Letztendlich verhindert fehlende Zeit auch die Herstellung kontextualer Zusammenhänge von Aufgaben, oder Abläufe werden erst gar nicht mehr hinterfragt.
Verzögerte Übergabe
Noch keine Verantwortung tragend und wissend um die Rückendeckung durch Vorgänger/innen, kommen Nachfolger/innen durchaus zu der späten Erkenntnis, zu lange in einem für sie komfortablen Zustand verweilt zu haben. Dementsprechend spät erkennbar ist dadurch der Wunsch einer früheren Übertragung der neuen Verantwortungen.
Ehemalige Stelleninhaber/innen hadern immer wieder mit dem Loslassen ihrer Aufgaben. Diese Verbundenheit kann einer der Hauptgründe darstellen, warum Verantwortung nicht früher oder zumindest teilweise abgegeben wird. Aber selbst bei Personen, denen das Loslassen keinerlei Probleme macht, finden vorzeitige Verantwortungsabtretungen nicht unbedingt häufiger statt. Dies kann damit zusammenhängen, dass erst die Beendigung der Übergabe eine gleichzeitige Abtretung der Aufgaben und der Stellenverantwortung verkörpert. Damit verbundene Glaubenssätze können durchaus in der jeweiligen Unternehmenskultur verankert sein. Im Gegensatz dazu, lassen fließende Übergaben Vorgänger/innen den Erfolg ihrer Einschulung zeitnah erkennen und Nachfolger/innen erfahren trotz allem ein selbstverständliches Maß an Unterstützung.
Unterschätzen Sie nicht den Übergabeprozess!
Selbst in Unternehmen mit bestehenden Übergabeprozessen, stellen sich diese oft als unausgereift dar. Werden sie nicht laufend auf Wirkung und Erfolg überprüft, kann sich rasch der „Schlendrian“ einnisten. Schlecht durchgeführte Übergaben können enorme Schäden anrichten, welche sich oft erst zeitverzögert darstellen. Meist sind dann Gegenmaßnahmen oder Korrekturen kompliziert, vielleicht gar nicht mehr möglich.
Eine vorstellbare Annäherung könnte in der Schaffung eines vollkommen autonomen Übergabeprozesses und dessen umfassenden Definition liegen. Dabei treten beispielhaft Fragen wie folgende auf: Welche Vorgänge werden diesem konkret zugezählt? Wie wird stellenrelevantes Wissen lokalisiert und gesichert? Ab wann beginnt eine Übergabe und wann wird diese als beendet angesehen? Stellenspezifische Anpassungen oder erforderliche Freiräume sollten trotz allem zugestanden werden.
Zu guter Letzt sollte nicht vergessen werden, dass sich ein gut durchdachter und umgesetzter Übergabeprozess in Bezug auf die sozialen Beziehungen und der aktiven Kommunikation innerhalb des Unternehmens als extrem förderlich erweisen kann.
Gerne können Sie mich für Fragen oder Meinungen kontaktieren.